А-П

П-Я

А  Б  В  Г  Д  Е  Ж  З  И  Й  К  Л  М  Н  О  П  Р  С  Т  У  Ф  Х  Ц  Ч  Ш  Щ  Э  Ю  Я  A-Z

 

« »Ich komme schon«, sagte K., lief vor, faЯte sie, kьЯte sie auf den Mund und dann ьber das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge ьber das endlich gefundene Quellwasser hinjagt. SchlieЯlich kьЯte er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort lieЯ er die Lippen lange liegen. Ein Gerдusch aus dem Zimmer des Hauptmanns lieЯ ihn aufschauen. »Jetzt werde ich gehen«, sagte er, er wollte Frдulein Bьrstner beim Taufnamen nennen, wuЯte ihn aber nicht. Sie nickte mьde, ьberlieЯ ihm, schon halb abgewendet, die Hand zum Kьssen, als wisse sie nichts davon, und ging gebьckt in ihr Zimmer. Kurz darauf lag K. in seinem Bett. Er schlief sehr bald ein, vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen ьber sein Verhalten nach, er war damit zufrieden, wunderte sich aber, daЯ er nicht noch zufriedener war; wegen des Hauptmanns machte er sich fьr Frдulein Bьrstner ernstliche Sorgen.

Zweites Kapitel Erste Untersuchung

K. war telephonisch verstдndigt worden, daЯ am nдchsten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Angelegenheit stattfinden wьrde. Man machte ihn darauf aufmerksam, daЯ diese Untersuchungen regelmдЯig, wenn auch vielleicht nicht jede Woche, so doch hдufiger einander folgen wьrden. Es liege einerseits im allgemeinen Interesse, den ProzeЯ rasch zu Ende zu fьhren, anderseits aber mьЯten die Untersuchungen in jeder Hinsicht grьndlich sein und dьrften doch wegen der damit verbundenen Anstrengung niemals allzulange dauern. Deshalb habe man den Ausweg dieser rasch aufeinanderfolgenden, aber kurzen Untersuchungen gewдhlt. Die Bestimmung des Sonntags als Untersuchungstag habe man deshalb vorgenommen, um K. in seiner beruflichen Arbeit nicht zu stцren. Man setze voraus, daЯ er damit einverstanden sei, sollte er einen anderen Termin wьnschen, so wьrde man ihm, so gut es ginge, entgegenkommen. Die Untersuchungen wдren beispielsweise auch in der Nacht mцglich, aber da sei wohl K. nicht frisch genug. Jedenfalls werde man es, solange K. nichts einwende, beim Sonntag belassen. Es sei selbstverstдndlich, daЯ er bestimmt erscheinen mьsse, darauf mьsse man ihn wohl nicht erst aufmerksam machen. Es wurde ihm die Nummer des Hauses genannt, in dem er sich einfinden solle, es war ein Haus in einer entlegenen VorstadtstraЯe, in der K. noch niemals gewesen war.
K. hдngte, als er diese Meldung erhalten hatte, ohne zu antworten, den Hцrer an; er war gleich entschlossen, Sonntag hinzugehen, es war gewiЯ notwendig, der ProzeЯ kam in Gang und er muЯte sich dem entgegenstellen, diese erste Untersuchung sollte auch die letzte sein. Er stand noch nachdenklich beim Apparat, da hцrte er hinter sich die Stimme des Direktor-Stellvertreters, der telephonieren wollte, dem aber K. den Weg verstellte. »Schlechte Nachrichten?« fragte der Direktor-Stellvertreter leichthin, nicht um etwas zu erfahren, sondern um K. vom Apparat wegzubringen. »Nein, nein«, sagte K., trat beiseite, ging aber nicht weg. Der Direktor-Stellvertreter nahm den Hцrer und sagte, wдhrend er auf die telephonische Verbindung wartete, ьber das Hцrrohr hinweg: »Eine Frage, Herr K.: Mцchten Sie mir Sonntag frьh das Vergnьgen machen, eine Partie auf meinem Segelboot mitzumachen? Es wird eine grцЯere Gesellschaft sein, gewiЯ auch Ihre Bekannten darunter. Unter anderem Staatsanwalt Hasterer. Wollen Sie kommen? Kommen Sie doch!« K. versuchte, darauf achtzugeben, was der Direktor-Stellvertreter sagte. Es war nicht unwichtig fьr ihn, denn diese Einladung des Direktor-Stellvertreters, mit dem er sich niemals sehr gut vertragen hatte, bedeutete einen Versцhnungsversuch von dessen Seite und zeigte, wie wichtig K. in der Bank geworden war und wie wertvoll seine Freundschaft oder wenigstens seine Unparteilichkeit dem zweithцchsten Beamten der Bank erschien. Diese Einladung war eine Demьtigung des Direktor-Stellvertreters, mochte sie auch nur in Erwartung der telephonischen Verbindung ьber das Hцrrohr hinweg gesagt sein. Aber K. muЯte eine zweite Demьtigung folgen lassen, er sagte: »Vielen Dank! Aber ich habe leider Sonntag keine Zeit, ich habe schon eine Verpflichtung.« »Schade«, sagte der Direktor-Stellvertreter und wandte sich dem telephonischen Gesprдch zu, das gerade hergestellt worden war. Es war kein kurzes Gesprдch, aber K. blieb in seiner Zerstreutheit die ganze Zeit ьber neben dem Apparat stehen. Erst als der Direktor-Stellvertreter ablдutete, erschrak er und sagte, um sein unnьtzes Dasein nur ein wenig zu entschuldigen: »Ich bin jetzt antelephoniert worden, ich mцchte irgendwo hinkommen, aber man hat vergessen, mir zu sagen, zu welcher Stunde.« »Fragen Sie doch noch einmal nach«, sagte der Direktor-Stellvertreter. »Es ist nicht so wichtig«, sagte K., obwohl dadurch seine frьhere, schon an sich mangelhafte Entschuldigung noch weiter verfiel. Der Direktor-Stellvertreter sprach noch im Weggehen ьber andere Dinge. K. zwang sich auch zu antworten, dachte aber hauptsдchlich daran, daЯ es am besten sein werde, Sonntag um neun Uhr vormittags hinzukommen, da zu dieser Stunde an Werktagen alle Gerichte zu arbeiten anfangen.
Sonntag war trьbes Wetter. K. war sehr ermьdet, da er wegen einer Stammtischfeierlichkeit bis spдt in die Nacht im Gasthaus geblieben war, er hдtte fast verschlafen. Eilig, ohne Zeit zu haben, zu ьberlegen und die verschiedenen Plдne, die er wдhrend der Woche ausgedacht hatte, zusammenzustellen, kleidete er sich an und lief, ohne zu frьhstьcken, in die ihm bezeichnete Vorstadt. Eigentьmlicherweise traf er, obwohl er wenig Zeit hatte, umherzublicken, die drei an seiner Angelegenheit beteiligten Beamten, Rabensteiner, Kullich und Kaminer. Die ersten zwei fuhren in einer Elektrischen quer ьber K.s Weg, Kaminer aber saЯ auf der Terrasse eines Kaffeehauses und beugte sich gerade, als K. vorьberkam, neugierig ьber die Brьstung. Alle sahen ihm wohl nach und wunderten sich, wie ihr Vorgesetzter lief; es war irgendein Trotz, der K. davon abgehalten hatte, zu fahren, er hatte Abscheu vor jeder, selbst der geringsten fremden Hilfe in dieser seiner Sache, auch wollte er niemanden in Anspruch nehmen und dadurch selbst nur im allerentferntesten einweihen; schlieЯlich hatte er aber auch nicht die geringste Lust, sich durch allzu groЯe Pьnktlichkeit vor der Untersuchungskommission zu erniedrigen. Allerdings lief er jetzt, um nur mцglichst um neun Uhr einzutreffen, obwohl er nicht einmal fьr eine bestimmte Stunde bestellt war.
Er hatte gedacht, das Haus schon von der Ferne an irgendeinem Zeichen, das er sich selbst nicht genau vorgestellt hatte, oder an einer besonderen Bewegung vor dem Eingang schon von weitem zu erkennen. Aber die JuliusstraЯe, in der es sein sollte und an deren Beginn K. einen Augenblick lang stehenblieb, enthielt auf beiden Seiten fast ganz einfцrmige Hдuser, hohe, graue, von armen Leuten bewohnte Miethдuser. Jetzt, am Sonntagmorgen, waren die meisten Fenster besetzt, Mдnner in Hemdдrmeln lehnten dort und rauchten oder hielten kleine Kinder vorsichtig und zдrtlich an den Fensterrand. Andere Fenster waren hoch mit Bettzeug angefьllt, ьber dem flьchtig der zerraufte Kopf einer Frau erschien. Man rief einander ьber die Gasse zu, ein solcher Zuruf bewirkte gerade ьber K. ein groЯes Gelдchter. RegelmдЯig verteilt befanden sich in der langen StraЯe kleine, unter dem StraЯenniveau liegende, durch ein paar Treppen erreichbare Lдden mit verschiedenen Lebensmitteln. Dort gingen Frauen aus und ein oder standen auf den Stufen und plauderten. Ein Obsthдndler, der seine Waren zu den Fenstern hinauf empfahl, hдtte, ebenso unaufmerksam wie K., mit seinem Karren diesen fast niedergeworfen. Eben begann ein in besseren Stadtvierteln ausgedientes Grammophon mцrderisch zu spielen.
K. ging tiefer in die Gasse hinein, langsam, als hдtte er nun schon Zeit oder als sдhe ihn der Untersuchungsrichter aus irgendeinem Fenster und wisse also, daЯ sich K. eingefunden habe. Es war kurz nach neun. Das Haus lag ziemlich weit, es war fast ungewцhnlich ausgedehnt, besonders die Toreinfahrt war hoch und weit. Sie war offenbar fьr Lastfuhren bestimmt, die zu den verschiedenen Warenmagazinen gehцrten, die jetzt versperrt den groЯen Hof umgaben und Aufschriften von Firmen trugen, von denen K. einige aus dem Bankgeschдft kannte. Gegen seine sonstige Gewohnheit sich mit allen diesen ДuЯerlichkeiten genauer befassend, blieb er auch ein wenig am Eingang des Hofes stehen. In seiner Nдhe auf einer Kiste saЯ ein bloЯfьЯiger Mann und las eine Zeitung. Auf einem Handkarren schaukelten zwei Jungen. Vor einer Pumpe stand ein schwaches, junges Mдdchen in einer Nachtjoppe und blickte, wдhrend das Wasser in ihre Kanne strцmte, auf K. hin. In einer Ecke des Hofes wurde zwischen zwei Fenstern ein Strick gespannt, auf dem die zum Trocknen bestimmte Wдsche schon hing. Ein Mann stand unten und leitete die Arbeit durch ein paar Zurufe.
K. wandte sich der Treppe zu, um zum Untersuchungszimmer zu kommen, stand dann aber wieder still, denn auЯer dieser Treppe sah er im Hof noch drei verschiedene Treppenaufgдnge und ьberdies schien ein kleiner Durchgang am Ende des Hofes noch in einen zweiten Hof zu fьhren. Er дrgerte sich, daЯ man ihm die Lage des Zimmers nicht nдher bezeichnet hatte, es war doch eine sonderbare Nachlдssigkeit oder Gleichgьltigkeit, mit der man ihn behandelte, er beabsichtigte, das sehr laut und deutlich festzustellen. SchlieЯlich stieg er doch die Treppe hinauf und spielte in Gedanken mit einer Erinnerung an den Ausspruch des Wдchters Willem, daЯ das Gericht von der Schuld angezogen werde, woraus eigentlich folgte, daЯ das Untersuchungszimmer an der Treppe liegen muЯte, die K. zufдllig wдhlte.
Er stцrte im Hinaufgehen viele Kinder, die auf der Treppe spielten und ihn, wenn er durch ihre Reihe schritt, bцse ansahen. »Wenn ich nдchstens wieder hergehen sollte«, sagte er sich, »muЯ ich entweder Zuckerwerk mitnehmen, um sie zu gewinnen, oder den Stock, um sie zu prьgeln.« Knapp vor dem ersten Stockwerk muЯte er sogar ein Weilchen warten, bis eine Spielkugel ihren Weg vollendet hatte, zwei kleine Jungen mit den verzwickten Gesichtern erwachsener Strolche hielten ihn indessen an den Beinkleidern; hдtte er sie abschьtteln wollen, hдtte er ihnen wehtun mьssen, und er fьrchtete ihr Geschrei.
Im ersten Stockwerk begann die eigentliche Suche. Da er doch nicht nach der Untersuchungskommission fragen konnte, erfand er einen Tischler Lanz – der Name fiel ihm ein, weil der Hauptmann, der Neffe der Frau Grubach, so hieЯ – und wollte nun in allen Wohnungen nachfragen, ob hier ein Tischler Lanz wohne, um so die Mцglichkeit zu bekommen, in die Zimmer hineinzusehen. Es zeigte sich aber, daЯ das meistens ohne weiteres mцglich war, denn fast alle Tьren standen offen und die Kinder liefen ein und aus. Es waren in der Regel kleine, einfenstrige Zimmer, in denen auch gekocht wurde. Manche Frauen hielten Sдuglinge im Arm und arbeiteten mit der freien Hand auf dem Herd. Halbwьchsige, scheinbar nur mit Schьrzen bekleidete Mдdchen liefen am fleiЯigsten hin und her. In allen Zimmern standen die Betten noch in Benьtzung, es lagen dort Kranke oder noch Schlafende oder Leute, die sich dort in Kleidern streckten. An den Wohnungen, deren Tьren geschlossen waren, klopfte K. an und fragte, ob hier ein Tischler Lanz wohne. Meistens цffnete eine Frau, hцrte die Frage an und wandte sich ins Zimmer zu jemandem, der sich aus dem Bett erhob. »Der Herr fragt, ob ein Tischler Lanz hier wohnt.« »Tischler Lanz?« fragte der aus dem Bett. »Ja«, sagte K., obwohl sich hier die Untersuchungskommission zweifellos nicht befand und daher seine Aufgabe beendet war. Viele glaubten, es liege K. sehr viel daran, den Tischler Lanz zu finden, dachten lange nach, nannten seine Tischler, der aber nicht Lanz hieЯ, oder einen Namen, der mit Lanz eine ganz entfernte Дhnlichkeit hatte, oder sie fragten bei Nachbarn oder begleiteten K. zu einer weit entfernten Tьr, wo ihrer Meinung nach ein derartiger Mann mцglicherweise in Aftermiete wohne oder wo jemand sei, der bessere Auskunft als sie selbst geben kцnne. SchlieЯlich muЯte K. kaum mehr selbst fragen, sondern wurde auf diese Weise durch die Stockwerke gezogen. Er bedauerte seinen Plan, der ihm zuerst so praktisch erschienen war. Vor dem fьnften Stockwerk entschloЯ er sich, die Suche aufzugeben, verabschiedete sich von einem freundlichen, jungen Arbeiter, der ihn weiter hinauffьhren wollte, und ging hinunter. Dann aber дrgerte ihn wieder das Nutzlose dieser ganzen Unternehmung, er ging nochmals zurьck und klopfte an die erste Tьr des fьnften Stockwerkes. Das erste, was er in dem kleinen Zimmer sah, war eine groЯe Wanduhr, die schon zehn Uhr zeigte. »Wohnt ein Tischler Lanz hier?« fragte er. »Bitte«, sagte eine junge Frau mit schwarzen, leuchtenden Augen, die gerade in einem Kьbel Kinderwдsche wusch, und zeigte mit der nassen Hand auf die offene Tьr des Nebenzimmers.
K. glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Gedrдnge der verschiedensten Leute – niemand kьmmerte sich um den Eintretenden – fьllte ein mittelgroЯes, zweifenstriges Zimmer, das knapp an der Decke von einer Galerie umgeben war, die gleichfalls vollstдndig besetzt war und wo die Leute nur gebьckt stehen konnten und mit Kopf und Rьcken an die Decke stieЯen. K., dem die Luft zu dumpf war, trat wieder hinaus und sagte zu der jungen Frau, die ihn wahrscheinlich falsch verstanden hatte: »Ich habe nach einem Tischler, einem gewissen Lanz, gefragt?« »Ja«, sagte die Frau, »gehen Sie, bitte, hinein.« K. hдtte ihr vielleicht nicht gefolgt, wenn die Frau nicht auf ihn zugegangen wдre, die Tьrklinke ergriffen und gesagt hдtte: »Nach Ihnen muЯ ich schlieЯen, es darf niemand mehr hinein.« »Sehr vernьnftig«, sagte K., »es ist aber jetzt schon zu voll.« Dann ging er aber doch wieder hinein.
Zwischen zwei Mдnnern hindurch, die sich unmittelbar bei der Tьr unterhielten – der eine machte mit beiden, weit vorgestreckten Hдnden die Bewegung des Geldaufzдhlens, der andere sah ihm scharf in die Augen –, faЯte eine Hand nach K. Es war ein kleiner, rotbдckiger Junge. »Kommen Sie, kommen Sie«, sagte er. K. lieЯ sich von ihm fьhren, es zeigte sich, daЯ in dem durcheinanderwimmelnden Gedrдnge doch ein schmaler Weg frei war, der mцglicherweise zwei Parteien schied; dafьr sprach auch, daЯ K. in den ersten Reihen rechts und links kaum ein ihm zugewendetes Gesicht sah, sondern nur die Rьcken von Leuten, welche ihre Reden und Bewegungen nur an Leute ihrer Partei richteten. Die meisten waren schwarz angezogen, in alten, lang und lose hinunterhдngenden Feiertagsrцcken. Nur diese Kleidung beirrte K., sonst hдtte er das Ganze fьr eine politische Bezirksversammlung angesehen.
Am anderen Ende des Saales, zu dem K. gefьhrt wurde, stand auf einem sehr niedrigen, gleichfalls ьberfьllten Podium ein kleiner Tisch, der Quere nach aufgestellt, und hinter ihm, nahe am Rand des Podiums, saЯ ein kleiner, dicker, schnaufender Mann, der sich gerade mit einem hinter ihm Stehenden – dieser hatte den Ellbogen auf die Sessellehne gestьtzt und die Beine gekreuzt – unter groЯem Gelдchter unterhielt. Manchmal warf er den Arm in die Luft, als karikiere er jemanden. Der Junge, der K. fьhrte, hatte Mьhe, seine Meldung vorzubringen. Zweimal hatte er schon, auf den FuЯspitzen stehend, etwas auszurichten versucht, ohne von dem Mann oben beachtet worden zu sein. Erst als einer der Leute oben auf dem Podium auf den Jungen aufmerksam machte, wandte sich der Mann ihm zu und hцrte hinuntergebeugt seinen leisen Bericht an. Dann zog er seine Uhr und sah schnell nach K. hin. »Sie hдtten vor einer Stunde und fьnf Minuten erscheinen sollen«, sagte er. K. wollte etwas antworten, aber er hatte keine Zeit, denn kaum hatte der Mann ausgesprochen, erhob sich in der rechten Saalhдlfte ein allgemeines Murren. »Sie hдtten vor einer Stunde und fьnf Minuten erscheinen sollen«, wiederholte nun der Mann mit erhobener Stimme und sah nun auch schnell in den Saal hinunter. Sofort wurde auch das Murren stдrker und verlor sich, da der Mann nichts mehr sagte, nur allmдhlich. Es war jetzt im Saal viel stiller als bei K.s Eintritt. Nur die Leute auf der Galerie hцrten nicht auf, ihre Bemerkungen zu machen. Sie schienen, soweit man oben in dem Halbdunkel, Dunst und Staub etwas unterscheiden konnte, schlechter angezogen zu sein als die unten. Manche hatten Polster mitgebracht, die sie zwischen den Kopf und die Zimmerdecke gelegt hatten, um sich nicht wundzudrьcken.
K. hatte sich entschlossen, mehr zu beobachten als zu reden, infolgedessen verzichtete er auf die Verteidigung wegen seines angeblichen Zuspдtkommens und sagte bloЯ: »Mag ich zu spдt gekommen sein, jetzt bin ich hier.« Ein Beifallklatschen, wieder aus der rechten Saalhдlfte, folgte. Leicht zu gewinnende Leute, dachte K. und war nur gestцrt durch die Stille in der linken Saalhдlfte, die gerade hinter ihm lag und aus der sich nur ganz vereinzeltes Hдndeklatschen erhoben hatte. Er dachte nach, was er sagen kцnnte, um alle auf einmal oder, wenn das nicht mцglich sein sollte, wenigstens zeitweilig auch die anderen zu gewinnen.
»Ja«, sagte der Mann, »aber ich bin nicht mehr verpflichtet, Sie jetzt zu verhцren« – wieder das Murren, diesmal aber miЯverstдndlich, denn der Mann fuhr, indem er den Leuten mit der Hand abwinkte, fort, – »ich will es jedoch ausnahmsweise heute noch tun. Eine solche Verspдtung darf sich aber nicht mehr wiederholen. Und nun treten Sie vor!« Irgend jemand sprang vom Podium hinunter, so daЯ fьr K. ein Platz frei wurde, auf den er hinaufstieg. Er stand eng an den Tisch gedrьckt, das Gedrдnge hinter ihm war so groЯ, daЯ er ihm Widerstand leisten muЯte, wollte er nicht den Tisch des Untersuchungsrichters und vielleicht auch diesen selbst vom Podium hinunterstoЯen. Der Untersuchungsrichter kьmmerte sich aber nicht darum, sondern saЯ recht bequem auf seinem Sessel und griff, nachdem er dem Mann hinter ihm ein abschlieЯendes Wort gesagt hatte, nach einem kleinen Anmerkungsbuch, dem einzigen Gegenstand auf seinem Tisch. Es war schulheftartig, alt, durch vieles Blдttern ganz aus der Form gebracht. »Also«, sagte der Untersuchungsrichter, blдtterte in dem Heft und wandte sich im Tone einer Feststellung an K., »Sie sind Zimmermaler?« »Nein«, sagte K., »sondern erster Prokurist einer groЯen Bank.« Dieser Antwort folgte bei der rechten Partei unten ein Gelдchter, das so herzlich war, daЯ K. mitlachen muЯte. Die Leute stьtzten sich mit den Hдnden auf ihre Knie und schьttelten sich wie unter schweren Hustenanfдllen. Es lachten sogar einzelne auf der Galerie. Der ganz bцse gewordene Untersuchungsrichter, der wahrscheinlich gegen die Leute unten machtlos war, suchte sich an der Galerie zu entschдdigen, sprang auf, drohte der Galerie, und seine sonst wenig auffallenden Augenbrauen drдngten sich buschig, schwarz und groЯ ьber seinen Augen.
Die linke Saalhдlfte war aber noch immer still, die Leute standen dort in Reihen, hatten ihre Gesichter dem Podium zugewendet und hцrten den Worten, die oben gewechselt wurden, ebenso ruhig zu wie dem Lдrm der anderen Partei, sie duldeten sogar, daЯ einzelne aus ihren Reihen mit der anderen Partei hie und da gemeinsam vorgingen. Die Leute der linken Partei, die ьbrigens weniger zahlreich waren, mochten im Grunde ebenso unbedeutend sein wie die der rechten Partei, aber die Ruhe ihres Verhaltens lieЯ sie bedeutungsvoller erscheinen. Als K. jetzt zu reden begann, war er ьberzeugt, in ihrem Sinne zu sprechen.
»Ihre Frage, Herr Untersuchungsrichter, ob ich Zimmermaler bin – vielmehr, Sie haben gar nicht gefragt, sondern es mir auf den Kopf zugesagt –, ist bezeichnend fьr die ganze Art des Verfahrens, das gegen mich gefьhrt wird. Sie kцnnen einwenden, daЯ es ja ьberhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also fьr den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermaЯen. Man kann sich nicht anders als mitleidig dazu stellen, wenn man es ьberhaupt beachten will. Ich sage nicht, daЯ es ein liederliches Verfahren ist, aber ich mцchte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben.«
K. unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Was er gesagt hatte, war scharf, schдrfer, als er es beabsichtigt hatte, aber doch richtig. Es hдtte Beifall hier oder dort verdient, es war jedoch alles still, man wartete offenbar gespannt auf das Folgende, es bereitete sich vielleicht in der Stille ein Ausbruch vor, der allem ein Ende machen wьrde. Stцrend war es, daЯ sich jetzt die Tьr am Saalende цffnete, die junge Wдscherin, die ihre Arbeit wahrscheinlich beendet hatte, eintrat und trotz aller Vorsicht, die sie aufwendete, einige Blicke auf sich zog. Nur der Untersuchungsrichter machte K. unmittelbare Freude, denn er schien von den Worten sofort getroffen zu werden. Er hatte bisher stehend zugehцrt, denn er war von K.s Ansprache ьberrascht worden, wдhrend er sich fьr die Galerie aufgerichtet hatte. Jetzt, in der Pause, setzte er sich allmдhlich, als sollte es nicht bemerkt werden. Wahrscheinlich um seine Miene zu beruhigen, nahm er wieder das Heftchen vor.
»Es hilft nichts«, fuhr K. fort, »auch Ihr Heftchen, Herr Untersuchungsrichter, bestдtigt, was ich sage.« Zufrieden damit, nur seine ruhigen Worte in der fremden Versammlung zu hцren, wagte es K. sogar, kurzerhand das Heft dem Untersuchungsrichter wegzunehmen und es mit den Fingerspitzen, als scheue er sich davor, an einem mittleren Blatte hochzuheben, so daЯ beiderseits die engbeschriebenen, fleckigen, gelbrandigen Blдtter hinunterhingen. »Das sind die Akten des Untersuchungsrichters«, sagte er und lieЯ das Heft auf den Tisch hinunterfallen. »Lesen Sie darin ruhig weiter, Herr Untersuchungsrichter, vor diesem Schuldbuch fьrchte ich mich wahrhaftig nicht, obwohl es mir unzugдnglich ist, denn ich kann es nur mit zwei Fingern anfassen und wьrde es nicht in die Hand nehmen.« Es konnte nur ein Zeichen tiefer Demьtigung sein oder es muЯte zumindest so aufgefaЯt werden, daЯ der Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wie es auf den Tisch gefallen war, griff, es ein wenig in Ordnung zu bringen suchte und es wieder vornahm, um darin zu lesen.
Die Gesichter der Leute in der ersten Reihe waren so gespannt auf K. gerichtet, daЯ er ein Weilchen lang zu ihnen hinuntersah. Es waren durchwegs дltere Mдnner, einige waren weiЯbдrtig. Waren vielleicht sie die Entscheidenden, die die ganze Versammlung beeinflussen konnten, welche auch durch die Demьtigung des Untersuchungsrichters sich nicht aus der Regungslosigkeit bringen lieЯ, in welche sie seit K.s Rede versunken war? »Was mir geschehen ist«, fuhr K. fort, etwas leiser als frьher, und suchte immer wieder die Gesichter der ersten Reihe ab, was seiner Rede einen etwas fahrigen Ausdruck gab, »was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht sehr schwer nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfahrens, wie es gegen viele geьbt wird. Fьr diese stehe ich hier ein, nicht fьr mich.«
Er hatte unwillkьrlich seine Stimme erhoben. Irgendwo klatschte jemand mit erhobenen Hдnden und rief: »Bravo! Warum denn nicht? Bravo! Und wieder Bravo!« Die in der ersten Reihe griffen hier und da in ihre Bдrte, keiner kehrte sich wegen des Ausrufs um. Auch K. maЯ ihm keine Bedeutung bei, war aber doch aufgemuntert; er hielt es jetzt gar nicht mehr fьr nцtig, daЯ alle Beifall klatschten, es genьgte, wenn die Allgemeinheit ьber die Sache nachzudenken begann und nur manchmal einer durch Ьberredung gewonnen wurde.
»Ich will nicht Rednererfolg«, sagte K. aus dieser Ьberlegung heraus, »er dьrfte mir auch nicht erreichbar sein. Der Herr Untersuchungsrichter spricht wahrscheinlich viel besser, es gehцrt ja zu seinem Beruf. Was ich will, ist nur die цffentliche Besprechung eines цffentlichen MiЯstandes. Hцren Sie: Ich bin vor etwa zehn Tagen verhaftet worden, ьber die Tatsache der Verhaftung selbst lache ich, aber das gehцrt jetzt nicht hierher. Ich wurde frьh im Bett ьberfallen, vielleicht hatte man – es ist nach dem, was der Untersuchungsrichter sagte, nicht ausgeschlossen – den Befehl, irgendeinen Zimmermaler, der ebenso unschuldig ist wie ich, zu verhaften, aber man wдhlte mich. Das Nebenzimmer war von zwei groben Wдchtern besetzt. Wenn ich ein gefдhrlicher Rдuber wдre, hдtte man nicht bessere Vorsorge treffen kцnnen. Diese Wдchter waren ьberdies demoralisiertes Gesindel, sie schwдtzten mir die Ohren voll, sie wollten sich bestechen lassen, sie wollten mir unter Vorspiegelungen Wдsche und Kleider herauslocken, sie wollten Geld, um mir angeblich ein Frьhstьck zu bringen, nachdem sie mein eigenes Frьhstьck vor meinen Augen schamlos aufgegessen hatten. Nicht genug daran. Ich wurde in ein drittes Zimmer vor den Aufseher gefьhrt. Es war das Zimmer einer Dame, die ich sehr schдtze, und ich muЯte zusehen, wie dieses Zimmer meinetwegen, aber ohne meine Schuld, durch die Anwesenheit der Wдchter und des Aufsehers gewissermaЯen verunreinigt wurde. Es war nicht leicht, ruhig zu bleiben. Es gelang mir aber, und ich fragte den Aufseher vollstдndig ruhig – wenn er hier wдre, mьЯte er es bestдtigen –, warum ich verhaftet sei. Was antwortete nun dieser Aufseher, den ich jetzt noch vor mir sehe, wie er auf dem Sessel der erwдhnten Dame als eine Darstellung des stumpfsinnigsten Hochmuts sitzt? Meine Herren, er antwortete im Grunde nichts, vielleicht wuЯte er wirklich nichts, er hatte mich verhaftet und war damit zufrieden. Er hat sogar noch ein ьbriges getan und in das Zimmer jener Dame drei niedrige Angestellte meiner Bank gebracht, die sich damit beschдftigten, Photographien, Eigentum der Dame, zu betasten und in Unordnung zu bringen. Die Anwesenheit dieser Angestellten hatte natьrlich noch einen andern Zweck, sie sollten, ebenso wie meine Vermieterin und ihr Dienstmдdchen, die Nachricht von meiner Verhaftung verbreiten, mein цffentliches Ansehen schдdigen und insbesondere in der Bank meine Stellung erschьttern. Nun ist nichts davon, auch nicht im geringsten, gelungen, selbst meine Vermieterin, eine ganz einfache Person – ich will ihren Namen hier in ehrendem Sinne nennen, sie heiЯt Frau Grubach –, selbst Frau Grubach war verstдndig genug, einzusehen, daЯ eine solche Verhaftung nicht mehr bedeutet, als einen Anschlag, den nicht genьgend beaufsichtigte Jungen auf der Gasse ausfьhren. Ich wiederhole, mir hat das Ganze nur Unannehmlichkeiten und vorьbergehenden Дrger bereitet, hдtte es aber nicht auch schlimmere Folgen haben kцnnen?«
Als K. sich hier unterbrach und nach dem stillen Untersuchungsrichter hinsah, glaubte er zu bemerken, daЯ dieser gerade mit einem Blick jemandem in der Menge ein Zeichen gab. K. lдchelte und sagte: »Eben gibt hier neben mir der Herr Untersuchungsrichter jemandem von Ihnen ein geheimes Zeichen. Es sind also Leute unter Ihnen, die von hier oben dirigiert werden. Ich weiЯ nicht, ob das Zeichen jetzt Zischen oder Beifall bewirken sollte, und verzichte dadurch, daЯ ich die Sache vorzeitig verrate, ganz bewuЯt darauf, die Bedeutung des Zeichens zu erfahren. Es ist mir vollstдndig gleichgьltig, und ich ermдchtige den Herrn Untersuchungsrichter цffentlich, seine bezahlten Angestellten dort unten, statt mit geheimen Zeichen, laut mit Worten zu befehligen, indem er etwa einmal sagt: ›Jetzt zischt!‹ und das nдchste Mal: ›Jetzt klatscht!‹«
In Verlegenheit oder Ungeduld rьckte der Untersuchungsrichter auf seinem Sessel hin und her. Der Mann hinter ihm, mit dem er sich schon frьher unterhalten hatte, beugte sich wieder zu ihm, sei es, um ihm im allgemeinen Mut zuzusprechen oder um ihm einen besonderen Rat zu geben. Unten unterhielten sich die Leute leise, aber lebhaft. Die zwei Parteien, die frьher so entgegengesetzte Meinungen gehabt zu haben schienen, vermischten sich, einzelne Leute zeigten mit dem Finger auf K., andere auf den Untersuchungsrichter. Der neblige Dunst im Zimmer war дuЯerst lдstig, er verhinderte sogar eine genauere Beobachtung der Fernerstehenden. Besonders fьr die Galeriebesucher muЯte er stцrend sein, sie waren gezwungen, allerdings unter scheuen Seitenblicken nach dem Untersuchungsrichter, leise Fragen an die Versammlungsteilnehmer zu stellen, um sich nдher zu unterrichten. Die Antworten wurden im Schutz der vorgehaltenen Hдnde ebenso leise gegeben.
»Ich bin gleich zu Ende«, sagte K. und schlug, da keine Glocke vorhanden war, mit der Faust auf den Tisch; im Schrecken darьber fuhren die Kцpfe des Untersuchungsrichters und seines Ratgebers augenblicklich auseinander: »Mir steht die ganze Sache fern, ich beurteile sie daher ruhig, und Sie kцnnen, vorausgesetzt, daЯ Ihnen an diesem angeblichen Gericht etwas gelegen ist, groЯen Vorteil davon haben, wenn Sie mir zuhцren. Ihre gegenseitigen Besprechungen dessen, was ich vorbringe, bitte ich Sie fьr spдterhin zu verschieben, denn ich habe keine Zeit und werde bald weggehen.«
Sofort war es still, so sehr beherrschte K. schon die Versammlung. Man schrie nicht mehr durcheinander wie am Anfang, man klatschte nicht einmal mehr Beifall, aber man schien schon ьberzeugt oder auf dem nдchsten Wege dazu.
»Es ist kein Zweifel«, sagte K. sehr leise, denn ihn freute das angespannte Aufhorchen der ganzen Versammlung, in dieser Stille entstand ein Sausen, das aufreizender war als der verzьckteste Beifall, »es ist kein Zweifel, daЯ hinter allen ДuЯerungen dieses Gerichtes, in meinem Fall also hinter der Verhaftung und der heutigen Untersuchung, eine groЯe Organisation sich befindet.
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